Dienstag, 25. Oktober 2011

Einheit 1 - Ausdruck, 2.Stunde am Di 18.10.2011

Ablauf:

1 Übersicht über die Lernmodule und deren Zusammenhang
2 Vorbereitung der Warm-Ups und der Übungsaufgabe
3 Warmups: Staccato <------>Legato
4 Übung des Abends







Linienqualität:

Nachdem wir vergangenen Dienstag relativ spontan und unbefangen erste Warmups zeichneten, die uns eine Begegnung mit unserem jeweils persönlichen Strich brachten, kreiste die zweite Stunde um die Untersuchung unseres Ausdrucks.

Der in der Welt der Zeichnung gebräuchliche Begriff für die mit der Persönlichkeit des Zeichners verbundene Qualität der Linie ist DUKTUS.

Ein Vergleich mit unserer tief sitzenden Gewöhnung an einen ausgeglichenen und geradezu gleichförmigen Schreib-duktus führte klar vor, dass diese für die Sprachkommunikation sinnvolle Haltung geradezu ein Hindernis beim Zeichnen darstellt. Also ist nicht nur die Schreibhaltung des Werkzeugs, sondern auch die Art und Weise der Linienproduktion für das Zeichnen ungeeignet.

Es gibt in der Zeichenkunst überraschenderweise keine verbindliche Sprache über die Linienqualität (*). Der von Zeichenlehrern oft geäußerte Hinweis, beim Zeichnen doch bitte die Linienstärken und den damit verbundenen Druck der Hand bzw. des Instruments zu variieren, macht den Anfänger oft ratlos: Worin sollen denn diese Unterschiede im Strich begründet sein? Wann und warum soll man das denn tun? Ist das nicht oft beliebig und dem Augenblick, dem Zufall, der Stimmung unterworfen? Oder gibt es dafür Regeln?

Berechtigte Fragen, die sich im Prinzip nur der Zeichnende selbst beantworten kann. Da es wie gesagt für die Zeichner keine verbindliche Sprache darüber gibt, machte ich mit Ihnen den Versuch, einen Übertrag aus der Musik zu wagen. In der notierten Musik gibt es für den Interpreten Hinweise auf die Ausführung und den Ausdruck der jeweiligen Passage eines Musikstückes. In der musikalischen Ausführung ist hier der Kern der künstlerischen Interpretation, denn die Anweisungen lassen immer Spielraum der Deutung.

Ähnliches könnte man nun auf die gezeichnete Linie übertragen:
Stellen Sie sich vor, ihr Zeichenstift sei ein Instrument, die ausgeführte Spur der Ton.
Der Ausdruck einer Spur, eines Tones wäre dann aus den folgenden Elementen gebildet:

1) ARTIKULATION = Art der Ausführung, die Art des Ansatzes:
Von STACCATO (abgehackt, unverbunden, abgesetzt) <----> bis LEGATO (fliessend)

2) TEMPO = Geschwindigkeit der Ausführung:
Von LARGHISSIMO (sehr breit, behäbig) <----> bis PRESTISSIMO (sehr schnell)

3) DYNAMIK = Stärke oder Kraft der Ausführung:
Von piano pianissimo (ppp, sehr zart) <----> bis forte fortissimo (fff, sehr kräftig)



Spielen Sie bitte in künftigen Warmups einfach alle Möglichkeiten und Kombinationen der Strichbildung durch, zum Beispiel:

- Sehr schnell ausgeführte, abgehackte, aber zart gesetzte Striche - und umgekehrt.
- Lang fliessende, ruhig ausgeführte kräftige Spuren - und umgekehrt.
- Sehr kräftige, behäbig aber abgehackt gesetzte Spuren - und umgekehrt.

Zwischen den genannten Extrempolen liegen viele Nuancen des Ausdrucks. Es sind unerschöpflich viele Kombinationen der genannten Elemente möglich.


Ziel der Übung insgesamt:

Ihnen soll zunehmend auffallen, dass sie mit einem einzigen Werkzeug wie z.B. dem Grafitstift viele Möglichkeiten des Ausdrucks haben. Je bewusster Sie diese Elemente der Spurbildung einsetzen, umso lebendiger und individueller werden Ihre Zeichnungen, gleichgültig, ob Sie nun abstrakt oder gegenständlich arbeiten.

Achten Sie einmal ganz bewusst beim Betrachten von Arbeiten anderer Zeichner, wie diese ihren Strich setzen: 
Van Goghs geschwind und dynamisch gesetzte Rohrfederspuren, Daumiers lebendig-nervös und flirrend unbestimmt gesetzte Reuelinien, Ingres bestimmt und klar geführte Grenzlinien, Klimts zärtlich fliessende Linie. Ignorieren Sie dabei, WAS gezeichnet wird, sondern beobachten Sie das WIE.

(*) Kandinskys Versuch einer Systematik in "Punkt und Linie zu Fläche" von 1929 hat sich hier nie wirklich durchgesetzt (vermutlich wegen des nur schwer verdaulichen, zuweilen nicht nachvollziehbaren, esoterischen Vortrags)


WARMUPS:

Vorbemerkung: Ich beobachte, dass Sie sich alle sehr grosse Mühe geben, kunstgemäss zu arbeiten, was bei den Übungen grossartig ist. Bei den Warmups aber lege ich grossen Wert darauf, dass Sie sich so locker wie möglich machen können und frei und ungezwungen, ohne gestalterische Auflage einfach drauflos zeichnen.
Vermeiden Sie also beim Warmzeichnen alles, was Sie hemmen will oder lange überlegen lässt. Das Warmup ist nicht das Endspiel. Die nachfolgenden Übungen sind nur "Freundschaftsspiele".


Warmup 1) STACCATO

Zeichnen Sie auf dem abgegrenzten, viereckigen Spielfeld eines möglichst grossen Blattes alle möglichen abgehackten, abgesetzten Spuren, mal zart, mal kräftig. Immer wieder an- und absetzend, sodass Ihnen ein gewisser Puls oder Rhythmus auffällt, auch in Bewegungen, die Ihnen eigentlich gar nicht liegen.
Wechseln Sie das Tempo, ihre Kraft, auch die Richtung und Grösse der Spur darf sich ändern. Denken Sie sich ein staccato vorgetragenes Musikstück und zeichnen Sie, was sie hören. Oder legen sie sich zu Hause Musik auf und zeichnen Sie dazu, auch mit geschlossenen Augen. Singen oder Summen Sie Ihr Bild.









Warmup 2) LEGATO

Die gleiche Spielanordnung wie oben, dieses Mal allerdings mit fliessenden Spuren.




Warmup 3) Staccato und Legato









Übung des Abends: Das volle Orchester

Die Aufgabe könnte lauten: Zeichnen Sie einen sinfonischen Klang.
Stellen Sie sich breit und langsam gestrichene Violin- und Celloflächen gegen staccato ausgeführte Flöten und Klarinetten vor, dann die Crashs der Becken, Paukenschläge und Glissandi des Piano oder einer Harfe - auf einmal! Und dann noch leicht aus der Kontrolle geraten...




















Sie dürfen übrigens durchaus auch immer mehrere verschiedene Versionen eines Themas zeichnen!


Hausaufgabe:

Zeichnen Sie weiterhin alle Möglichkeiten des Ausdrucks zwischen Staccato und Legato, so zart und kräftig wie möglich, mal schnell, mal bedächtig.
Zeichnen Sie auch einmal mit geschlossenen Augen zu Ihrem Lieblingsstück, experimentieren Sie mit Ihnen fremden Musikstücken in unterschiedlichem Tempo und Ausdruck.
Schauen Sie mal, welche Palette an Spuren ein einziges Werkzeug hergibt, indem Sie den Stift in allen erdenklichen Haltungen und mit unterschiedlichem Druck verwenden.

Ruhig auch öfter mal ein ganz systematisches Blatt, auf dem Sie nebeneinander gestellt festhalten, was Sie entdeckt haben:





















Für diejenigen, die Musik nicht mögen (gibt es das??) , lassen sich alle Übungen auch auf Geräusche und Klänge des Alltags übertragen:
Zeichnen Sie eine belebte Strasse - nur den Höreindruck allerdings, nicht die konkreten Dinge!
Oder stellen sie sich einen Wald vor bzw. seinen Klang. Wie das Meer klingt. Oder der Wind.
Hören Sie mal bewusst Fernsehn und zeichnen Sie spontan, was sie gerade hören, wie ein seismografisches Gerät.


Buch des Abends:


Hans Daucher, Die grosse Zeichenschule, 14,95 €
( siehe bei Amazon )

Empfehle ich jedem, der sich selbst durch das gesamte Gebiet des Zeichnens (Grundlagen, Portrait, Figur, Landschaft, Stillleben) durchzeichnen möchte. Der Autor erklärt das Wesentliche, gibt aber vor allem sehr viele Beispiele, die man als Vorlage nehmen kann, um sie zu kopieren und weiterzuentwickeln. Das praktischste Buch für Autodidakten!

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