Dienstag, 20. Dezember 2011

Einheit 2 - 5.Std, Anwendung aller Methoden, Di. 13.12.11

Zu Beginn des Abends habe ich Ihnen noch einmal alle bislang erarbeiteten Methoden der Einheit zusammengefasst und eine zugegebenermassen sehr subjektive Bewertung versucht:


1 Gestisches Zeichnen/einfühlendes Zeichnen (ideomotorisch):
Hier geht es in erster Linie darum, die Handlung, Action, Bewegung einer Person oder eines Gegenstands recht schnell zu erfassen und ohne allzu genaue Beschreibung festzuhalten.
+ Stellt Verbindung her, im besten Fall so etwas wie Einfühlung und innerer Nachvollzug.
- Ästhetisch erst einmal gewöhnungsbedürftig, da Schönheit hier nicht das Thema ist.


2 Symmetriefiguren
Übungen, die die rechte Hirnhälfte bewusst machen und auf Trab bringen.
+ Schaltet Auge und Hirn auf reine Wahrnehmung, übt zu sehen, wie etwas geformt ist.
- (ich finde keine Nachteile...)


3 Auf den Kopf Gestelltes zeichnen
Diese Methode schaltet das gewohnte Urteilen nahezu aus und schult das Sehen des Gesamten.
+ Überlistung der Kontrollbedürfnisse und Gewohnheiten.
- Nicht so ohne Weiteres mit realen Studienobjekten machbar.


4 Blindzeichnen
Zugegebenermassen mein persönlicher Favorit. Sie werden erlebt haben, dass man tatsächlich genauer Hinzuschauen lernt, wenn man die Hürde der Verunsicherung überwunden hat. 
+ Synchronisiert Auge und Hand unter Umgehung allzu starker Einsprüche des inneren Kontroletti. Mit der Zeit gleicht sich die Bilanz von Kontrollblicken auf das Zeichenblatt und Blicken auf das Modell aus. Ziel sollte sein, mehr auf das Modell als auf das Zeichenblatt zu schauen.
- Ohne Modell geht gar nichts.


5 Negativer Raum
Eine Methode, die sich bei sehr komplizierten und stark gegliederten Objekten eignet, bei der man versucht, nicht das Objekt selbst, sondern die leere Umgebung zu erfassen und zu zeichnen.
+ Man sieht und lernt, dass sich die Dinge immer in einer Umgebung befinden und diese die Dinge auch definiert. Figur und Grund ergänzen sich zu einem Ganzen.
- Räumliches wird sehr stark auf Scherenschnittartiges, Flaches reduziert.


Vorteile aller 5 Methoden:
Insgesamt führt die Anwendung jeder dieser Methoden unweigerlich dazu, allmählich die Dinge um uns wirklich und ohne Klischees sehen zu lernen.
Das Sehen muss man lernen. Das Sehen kann man lernen.
Als Zeichner können Sie jederzeit auf eine oder gar gleich alle Methoden auf einmal bauen, je nach Situation und Aufgabe.




Nachteile dieser Methoden:
Sie erarbeiten hiermit ein Sehen, das jederzeit ohne jedes Wissen um die kulturell vermittelten Seh- und Zeichenmethoden auskommt. Aber: Sobald Sie kein Modell vor Augen haben und aus der Erinnerung oder dem Kopf zeichnen wollen, nutzen Sie Ihnen gar nichts. Sie sind also stark mit Ihren Sinnen verbunden und weniger mit Ihrem Denken. 


Womit wir an dieser Stelle am Ende von Einheit 2 angelangt sind.
In Einheit 3 stelle ich Ihnen diese kulturell und traditionell vermittelten Zeichenmethoden vor. 




Auf eine Rangfolge verzichte ich, stattdessen möchte ich Sie ermuntern, diese wie ich finde sehr effektiven Methoden weiterhin zu üben und in Ihrem Skizzenbuch häufig anzuwenden.




Techniken des Zeichnens:


An diesem Abend habe ich Ihnen die Verwendung unterschiedlicher Zeichenfedern vorgeführt und Ihnen zum Ausprobieren gegeben. Wenn es auch anfangs schwieriger erscheint, unterstützt das Zeichnen mit der Feder die Entwicklung eines guten Strichs. Gerade die Übungen zum Konturzeichnen eignen sich besonders gut dafür. Insbesondere das häufige Eintauchenmüssen z. B. unterstützt nebenbei auch noch, dass man nicht zu eilig Linien "hinhaut", sondern geduldig und langsam arbeitet.

Wenn Sie feststellten, dass das Federzeichnen "Ihr Ding" (einige von Ihnen habe ich da im Auge...) ist, dann empfehle ich Ihnen diesen Händler, der alte und gut brauchbare Zeichenfedern verkauft. Alles, was Sie sonst so üblicherweise im Schreibwarenhandel oder sogar bei boesner bekommen, ist absolut untaugliche, schlecht produzierte Ware, weil diese Kultur seit Jahrzehnten perdü ist...

http://www.kalligraphie.ch
Schreibfedern, Spitzfedern, Zeichenfedern sind die richtigen Rubriken!






Warmups:


- Alle Linienarten (Gerade, Gebogene, Unregelmässige) sollten Sie mit der Feder zeichnen und damit locker und entspannt ein Blatt füllen. Das Ziel dabei ist es, sich mit der Feder vertraut zu machen.


Übungen:
Als Zusammenfassung der o.g. Methoden, zeichneten Sie dieses Mal alle auf dem Tisch ausgebreiteten Objekte je nach Belieben mit Hilfe von Tusche und Feder. Versuchen Sie sich entweder mit gestischer Zeichnung oder Blindzeichnung mit den unterschiedlich komplizierten Formen und den Einzelheiten der Strukturen und Texturen vertraut zu machen.




(Aus irgendeinem Grund habe ich es letztes Mal versäumt, Fotos Ihrer Arbeiten zu machen. Wer mag, den möchte ich bitten, heute eine Arbeit des Abends mitzubringen, dass ich das nachholen kann.)

Dienstag, 13. Dezember 2011

Einheit 2 - 4.Std, Negativer Raum am Di. 6.12.11

Die Übungen des Abends kreisten um das Phänomen des "Negativen Raumes". D.h. nachdem wir nun gelernt haben, die Grenze eines Objektes nach aussen hin zu beobachten, um so die Kontur eines Gegenstands darzustellen, lernen wir an diesem Abend, Gegenstände von ihrer Umgebung her zu sehen.
Wir stellen fest, dass die Kontur ja auch von dem umgebenden Raum her geprägt wird. Manchmal ist es leichter, einen komplizierten Gegenstand zu zeichnen, indem wir wiedergeben, welche Form der Hintergrund hat.
Zeichnen Sie einfach mal alles, was auf einem Tisch liegt so, dass Sie nur die Formen der freien Flächen des Tischs zeichnen...

Warmups:
2 x 5 1-Minutenposen, Sitzene und Stehender vor leerem Hintergrund.
2 x 5-Minutenposen, Sitzender und Stehende

Übung 1:
20 Minuten Zeichnung eines umgedrehten Hockers auf einem Tisch.


Übung 2:
20 Minuten Zeichnung einer Topfpflanze.


Es ist bei beiden Übungen insbesondere darauf zu achten, welche Form die "Löcher", also Durchsichten und damit der Hintergrund des Gegenstands hat.



Ergebnisse:






Donnerstag, 1. Dezember 2011

Einheit 2- 3.Std: Der L- und R-Modus - Di 29.11.11

Der L- und R-Modus, 
oder: Die Schwächung des Controlletti, Teil 2

Erneut ging es bei den Warmups und Übungen dieses Abends um Methoden, unsere zumeist voreingenommene Wahrnehmung und vor allem unsere vorschnellen Urteile über die Dinge der sichtbaren Welt zumindest zu schwächen, da es Ihnen sicherlich klar ist, dass wir so ohne Weiteres nicht mehr ein naives und unmittelbares WAHR-NEHMEN erleben können.

Sie haben bereits einige Ansätze dazu z.B. beim Zeichnen von Symmetriemustern, beim sog. Gestischen Zeichnen, Blindzeichnen oder dem Abzeichnen von auf den Kopf gestellten Vorlagen kennengelernt und womöglich dabei sogar schon erlebt, dass diese "Tricks" oder Verfremdungen tatsächlich einen anderen Blick auf die Dinge und damit einen anderen zeichnerischen Umgang mit dem Sichtbaren ermöglichen.

Es wird nicht genügen, dass Sie diese Phänomene intellektuell einsehen und akzeptieren können, eine tatsächliche Wirkung auf Ihre Zeichenfähigkeit werden Sie nur erreichen, wenn Sie diese z.T. sicherlich ungewohnten und verunsichernden Methoden regelmässig üben. Die Ihnen angebotenen Übungen sind durchaus etliche Male wiederholbar oder auch in Variationen auszuprobieren. Zeichnen Sie z.B. eine Reihe von Selbstportraits, indem sie sich in einem Spiegel genau anschauen und dabei das Beobachtete als seismografische Notizen "blind" festhalten.

Die Angst vor Kontrollverlust ist übrigens völlig natürlich und normal, sie ist allerdings eine Hürde, die unbedingt zu nehmen ist, auch wenn Sie möglicherweise etliche Anläufe versuchen müssen. Ich garantiere Ihnen aber, dass wirklich nichts Schlimmes bei dieser Art von Kontrollverlust droht, höchstens, dass Sie sehen lernen, wie etwas wirklich ist - und das sollte den Zeichner eigentlich interessieren, oder?
.
Ihre Arbeiten könnten also umso mehr vom wirklichen Leben und wirklicher Wahrnehmung gezeichnet sein.



Ich habe Ihnen weiterhin kurz den Inhalt zweier wichtiger Bücher der amerikanischen Autorin Betty Edwards skizziert.
Betty Edwards Ansatz ist bei der Entwicklung des Sehens sehr hilfreich. Sie geht davon aus, dass wir als Zeichner die Möglichkeit haben, uns ganz gezielt mit Hilfe oben genannter, ungewöhnlicher Haltungen und Sehweisen zumindest für kurze Zeit so etwas wie ein unmittelbares und unvoreingenommenes Sehen zu ermöglichen. 
D.h. wir versuchen es, uns die alltäglichsten Anblicke etwa einer Hand, einer Blume, eines Steins etc. für kurze Zeit so "fremd" zu machen, dass wir sie wie zum ersten Mal überhaupt sehen. 
Sicherlich klingt das nach einem vielleicht etwas zu hoch gegriffenen Versprechen, aber ich verspreche Ihnen trotzdem, dass Sie mit einiger Übung tatsächlich so etwas wie einen frischen, unverbrauchten Blick auf die Dinge entwickeln können, was für das Zeichnen unerlässlich ist.


Das wichtigste Ziel der Einheit 2 besteht also darin, sich ganz mit dem Sehen, Hinschauen und Wahrnehmen  zu beschäftigen (fällt Ihnen auf, was das Wort sagt: Für-Wahr-Nehmen! "Nehmen" vor allem!).

Und nachdem wir in der Einheit 1 schon feststellen durften, welch wunderbares, differenziert ausdrucksfähiges Werkzeug unsere Zeichenhand von Natur aus und dem Bauch heraus ist, bekommen wir in dieser Einheit dafür gleich auch noch ein noch grossartiges "Steuerinstrument" mit: Das Auge ( bzw. davon gleich deren 2 ), dem als optisches Werkzeug alles gleich Wert und gültig ist, ohne Ansehen der Person..;-)

Unsere Übungen zielen also darauf, die Verbindung der Zeichenhand mit der unvoreingenommenen Wahrnehmung Ihres Auges herzustellen.

Ich spreche hierbei von einer notwendigen "Synchronisierung" von Auge und Hand. D.h. wenn Sie es eine Weile geübt haben und das Unsicherheitsgefühl beim sog. "Blindzeichnen" zunehmend verlieren, wird sich automatisch eine Art von "seismografischer" Haltung einstellen. Was Ihr Auge sieht, wird Ihre Zeichenhand in die entsprechenden Linien, Kurven, Bögen übersetzen.
Mir ist klar, dass das ungewohnt ist und noch lange bleibt, aber mit der Zeit garantiere ich Ihnen eine deutliche Veränderung in Ihren Zeichnungen. Die Linien bekommen statt symbolischer Abstraktionen und Klischees  so etwas wie Leben eingehaucht.

Die Dinge schauen anders aus, als wir meinen.

Dass Ihr Auge, also Ihr unvoreingenommenes Hinschauen und Versenken in den Anblick der Dinge viel stärker mit der rechten Hirnhälfte und deren besonderen Leistung für das umfassende Sehen und Verstehen verknüpft sei, ist die Grundaussage des Ansatzes von Betty Edwards. Ihre Aussagen stützen sich auf Ergebnisse der Hirnforschung Ausgangs des 20.Jahrhunderts, die sie für den Zeichenunterricht nutzbar macht. Ihre Methode hat sich in der Tat als produktiv erwiesen.
Auf ihre ausführlichere Argumentation kann ich an dieser Stelle nur verweisen. Wen es in der Tiefe und eher theoretisch interessiert, dem empfehle ich, das in der Stunde genannte Buch (Garantiert Zeichnen lernen oder besser gleich amerikanisch "Drawing from the Right Side of the Brain") zu lesen.
Wer entdeckt, dass ihn dieser Ansatz tatsächlich weiterbringt, dem empfehle ich für die praktische Übung eher das genannte "Workbook" (= Arbeitsbuch) der gleichen Autorin.

Hier der Ihnen in Kopie ausgehändigte Auszug aus Betty Edward, Garantiert Zeichnen lernen, S. 56, Die zwei Hälften unsere Gehirns, der die sich in Polaritäten äussernden Leistungen unsere Gehirns beschreibt:


Warmups:

Posen:
2 x 5-1-Minute Posen Bewegungssequenz Sitzen/Aufstehen und Stehen/Gehen

2 x 5-Minuten Posen Sitzende und Stehender

Heute galt es, die Geste der Figur schnell zu erfassen und das Augenmerk auf die Veränderung in der Kontur der Gestalt zu richten. Sie können hierbei durchaus auch nur Fragmente der Posen zeichnen (Wie ein Arm aus dem Körper kommt, wie die Beine auf dem Boden stehen, welche Dehnungen und Stauchungen Stoffe zeigen usw.)





Übungen:

1) Rechte Hirnhälfte Jogging:
Zeichnen Sie eine ungegenständliche Symmetriefigur in der vorgestellten Weise, nicht zu kompliziert, aber auch nicht zu supersimpel - davon haben Sie am Ende gar nichts.
Ziel: Hiermit wecken Sie die Rechte Hirnhälfte, die genau weiss, wie herum ein Bogen zu zeichnen ist und wohin das führt...

2) Innenreise durch die Handfläche: 
Folgen Sie mit den Augen den feinen Linien und Verästelungen Ihrer Handfläche und zeichnen Sie, was Sie gerade sehen, ohne dabei auf das Zeichenblatt zu schauen.
Ziel: Durch diese einfache Form der beinahe abstrakten und filigran-poetischen offenen Zeichnung üben Sie die Verbindung von Augen und Zeichenhand. Sie können dies mit jedem einigermassen interessanten Zeichenobjekt üben, an dem es viel zu sehen gibt...und keiner muss wissen, was genau Sie da gesehen haben...d.h. Widererkennbarkeit ist nicht das Thema.)

3) Augenreise um und durch ein Sammelsurium von Dingen:
Ich habe Ihnen einen Tisch voller Dinge vor Augen gestellt, die jedes für sich sind und doch zusammen ein Ganzes bilden. 
Die Aufgabe bestand zunächst darin, den äußeren Umriss des Ganzen mit der vorgestellten Methode des an die Kontur gehefteten Blickes und der "blind" protokollierenden, seismografischen Zeichenhand festzuhalten. In einem zweiten Schritt bat ich Sie, mit der gleichen Methode einen Blickpfad quer durch das Stilleben zu nehmen und dabei aufzuzeichnen, woran entlang dabei ihr Blick wandert.
Ziel: Sehen Sie Ihr Sehen und nehmen Sie Notiz davon.




4) Erste Reise zu den Objekten:
Aus der Menge der Einzelobjekte bat ich Sie abschliessend, sich 3-4 interessante Gegenstände herauszugreifen und diese mit den bislang erarbeiteten Methoden zu zeichnen. Im Wesentlichen geht es darum, mit einfachen Gegenständen zunehmend sicherer werdend das Verhältnis von Objektbeobachtung und Übersetzung in Zeichnung zugunsten der Beobachtung oder des Sehens zu verschieben.
Ziel: Ihr Ziel sollte sein, von 10 Blicken 7 dem Objekt und 3 dem Zeichenblatt zu widmen.



Buch des Abends:

Betty Edwards,
Das neue Garantiert zeichnen lernen - WORKBOOK
19,90 €
Überall sonstwo aber auch bei Amazon
(Die deutsche Übersetzung ist leider ungeschickt oder bewusst reisserisch. 
Die Originalausgabe heisst:
Drawing on the Right Side of the Brain - was die Sache besser trifft! )

Betty Edwards Buch erschien Ende der 1970er Jahre erstmals in den USA und ist in seiner ursprünglichen Form ein wortreiches Plädoyer für eine bis dahin kaum bewusste und wenig bekannte, zunächst fragwürdige und gar esoterisch geltende Herangehensweise an das Zeichnen. Daher der Überhang an Erklärung und die relativ kleine Menge an konkreten Übungen und Beispielen.

Nachdem sich nun diese Methode weitgehend durchgesetzt hat und weltweit sehr viele Künstler und Lehrer damit arbeiten, folgte wenig später ein Arbeitsbuch/Workbook, das auf den theoretischen Hintergrund weitestgehend verzichtete und ihn nur skizziert, wo nötig.

Dieses Buch empfehle ich für die Praxis des Zeichnenlernens.



Mittwoch, 23. November 2011

Einheit 2 - 2. Stunde: Was ist Gestisches Zeichnen? - 22.11.11

Sie haben in der ersten Stunde der Einheit 2 beim Zeichnen der Symmetriefiguren und des Kopfüber-Portraits evtl. schon erfahren, dass es einen anderen Zugang zur Zeichnung und Wahrnehmung gibt, der unabhängig davon ist, was wir vermeintlich über das Aussehen der Dinge wissen.
Ja mehr noch, Sie haben hoffentlich zumindest ansatzweise feststellen können, dass wir unbewusst gar nicht mehr genau hinschauen, sondern so starke Konzepte über das Aussehen der Dinge in uns haben, dass wir meinen, (fast) alles aus dem Kopf zeichnen können, wenigstens in groben Umrissen.

Aber genau dieses - symbolische - Vorwissen steht uns als Zeichner immerzu im Weg.

Wir zeichnen eine Art "abgekürzte" Realität, die nur auf das vermeintlich Wesentliche zielt und das vermeintlich Nebensächliche weglässt.
So kommt es zu Stande, dass wir z.B. beim Zeichnen eines menschlichen Kopfes gerne die für uns wesentlichen Informationen über Augen, Nase und Mund übergross und prominent zeichnen und "unwichtige" Partien wie die Stirn oder das Kinn vergessen oder zumindest unterproportional zeichnen. (Ich habe Sie in unserer allerersten Stunde einen Kopf zeichnen lassen. Vergleichen Sie bitte Ihr Ergebnis mit der oben ausgesprochenen Vermutung. Stimmts? Sind die Proportionen in Ihrer Zeichnung "realistisch" oder symbolisch?)

Diese Haltung kann man "Vorwegnahme" ("Antizipation") nennen, d.h. wir sind geneigt, alle unsere Wahrnehmung spontan mit unserer Vorstellung oder Seherwartung zu vergleichen und nehmen das Ergebnis des Sehens oder Sehexperiments gerne vorweg - weil wir das so gelernt haben und weil es uns im Alltag dabei hilft, die Dinge in - meist altbewährter - Ordnung zu halten. Und das ist im Alltag auch gut so, damit er erwartungsgemäß "funktioniert".

Für das Sehenlernen im Speziellen  aber und die Kunst im Allgemeinen ist das kein guter Ansatz. Für den Zeichner ist diese Einstellung aus Vorurteil und der Vorwegnahme das reine Gift, denn sie verhindert die wirkliche Begegnung mit den Dingen der Welt und die Aufregung der Entdeckung der Wirklichkeit. Und damit vor allem, die Dinge zu sehen, wie sie für einen selbst sind, um sie zeichnen zu können, wie man sie wirklich erlebt hat und subjektiv sieht. Geht der Zeichner nicht daran, diese Vorurteile zu überwinden, bleibt ihm zumeist nur übrig, nachzuahmen, was ein anderer vor ihm gesehen und erarbeitet hat. Und solches Zeichnen ist meines Erachtens als mehr oder weniger bewusste Nachahmung leider ohne Belang, bzw. allenfalls gut und wichtig, wenn man lernt - aber es ist wenig künstlerisch und noch weniger originell.

Der Kern der 2.Einheit kreist also darum, diese Vorwegnahmen und das symbolische Sehen
überhaupt erst einmal zu erkennen und mit Hilfe einiger "Tricks" zumindest zu schwächen.

Einen dieser Kniffe oder "Tricks" zur Überwindung der Vorwegnahme und des starken Kontrollbedürfnisses habe ich Ihnen in der 2. Stunde leibhaftig demonstriert, indem ich Sie gegen Ihren deutlichen Widerstand - aber nur vorübergehend, keine Angst ! - dazu überredete, einige der Menschenstudien zunächst völlig blind und später dann halb - oder wenigstens ein wenig blind zu zeichnen.
Dass diese Übung auf Widerstand und auf spürbares Unbehagen stösst, ist klar und erwartungsgemäß. Sie werden zu Beginn bei dieser Methode immer ein Unbehagen fühlen, da es völlig gegen alle Gewohnheiten geht - aber Sie werden merken, sofern Sie bereit sind, sich darauf einzulassen, dass nichts wirklich Schlimmes geschieht, dass Sie nicht völlig aus der Rolle fallen oder die Selbstbeherrschung oder Orientierung im All verlieren. Höchstens, dass Ihre Zeichnung eine ganze Weile nicht den geläufigen Schönheitserwartungen entspricht, ja vielleicht sogar "irgendwie schlecht" aussieht. Aber, erinnern Sie sich: Das war sogar Ziel der Übung. Erlauben Sie sich in der 2.Einheit ruhig, so schlecht wie möglich zu zeichnen. Denn: Es geht hierbei zumindest am Anfang nicht darum, ein tolles Werk zu schaffen, sondern vielleicht zum ersten Mal im Leben mit Bewusstsein und Konzentration etwas anzuschauen und dessen Form und Struktur im Raum zu erfassen und ein Gefühl dafür zu entwickeln, was an einem Anblick wichtig, charakteristisch und wesentlich ist.


Und sollte es Ihnen dann doch nach der ersten Erfahrung trotz allem nicht wichtig oder sogar nicht ganz geheuer sein, so betrachten Sie bitte die nächsten 2-3 Abende mit einiger Neugier unter dem Aspekt des abenteuerlichen Experimentierens völlig Abgedrehter, m.a.W. das geht auch vorbei...

Das Ziel dieser Stunden der 2. Einheit ist es also, das Sehen zu sehen und erleben sowie allmählich einen Kontakt und ein Zusammenspiel von Auge, Gehirn und Zeichenhand herzustellen.
Dass dies nicht auf Anhieb perfekt gelingt, liegt ja auf der Hand. Sie müssen dies also wie immer regelmäßig üben.

Blindzeichnen: 
(grosses Zeichenblatt, etwa 5 Posen pro Blatt neben- und übereinander, breite Seite eines Stückes Signierkreide oder Grafit, später auch zusätzlich Spitze)

Das  Blindzeichnen ist hierbei das zunächst einmal beängstigendste Experiment. Sie haben in Einheit 1 kennengelernt, dass wir ohne jedes Vor- oder Innenbild dennoch in der Lage sind, mit Hilfe eines Stiftes differenzierte und ausdrucksvolle Zeichnungen quasi "aus dem Bauch" zu schaffen, die von Stimmung, Gefühl, Laune, Motivation etc. Bericht geben.
Diese Linien aber "wissen" im Kern noch nichts von den Erscheinungen der Welt, sie protokollieren eher persönliche Zustände und drücken diese mehr oder weniger glaubhaft und echt aus.
In der Einheit 2 nun aber machen Sie sich auf den Weg, diese unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten mit echten Seherfahrungen aufzuladen. 

1) Total blind zeichnen:
Die erste Übung des totalen Blindzeichnens hat zum Ziel, dass Sie Ihrer Vorstellungskraft "Futter" geben, indem Sie die Haltung eines Menschen oder sonstigen Gegenstands in der Umgebung für wenige Sekunden (ca. 10 Sekunden) fixierend anschauen und dann mit geschlossenen Augen versuchen zu memorieren, was sich Ihnen als Wesentlichstes eingeprägt hat. Die Geste dieses Eindrucks sollten Sie mit wenigen groben, eher flächigen Markierungen festhalten. (Max. 50 Sek.) 
Notfalls können Sie auch weiterhin mit der Stiftspitze Konturen zeichnen, aber ich erinnere Sie daran, dass Sie damit eher wieder in die Falle der symbolischen Denkweise geraten, indem Sie symbolische Zeichen für Kopf oder Hand und Fuß statt Beobachtungen einsetzen, die nicht dem gerade Gesehenen entsprechen.
Die Zeichnung sollten Sie hierbei nicht als eine realistische Sachzeichnung begreifen, sondern als ein Seismogramm des Seheindrucks.
Diese Übung, die jederzeit an jedem Ort auch nur für Minuten gemacht werden kann, wird im Laufe der Zeit immer klarer dahin führen, dass Sie sehr schnell erfassen lernen, was Sie sehen und was das Wesentliche daran ist. Nichts wirklich Schlimmes also, das diese Form des Kontrollverlusts beschert.




2) Halbblind zeichnen:
Im 2. Experiment ging es darum, eine Folge von Posen jeweils für eine Minute mit den Blicken zu fixieren, d.h. die Augen dauernd auf das Modell zu heften und zu versuchen, der Hand mitzuteilen, was Sie gerade anschauen und wie dies beschaffen ist. Dabei wird in diesem Fall  die Zeichenfläche mit einem Tuch verhüllt, sodass Sie der dauernden Versuchung zur Kontrolle nicht erliegen können. Klar, dass das erst einmal monströse Gestalten bringt. Das soll so. Im besten Fall erleben Sie, welche insgeheimen Proportionsvorstellungen ihr Blick herstellt: Was wichtig ist, wird immer grösser, was man nicht wahrnimmt, existiert nicht in der Zeichnung... 
Aber ich verspreche Ihnen, dass Sie im Laufe des Übens eine immer deutlichere Vorstellung davon entwickeln, was Sie sehen und wo und wie dies der Stift auf dem Blatt festhält.
Leider halt wie immer nur durch Übung...




3) Ein wenig blind zeichnen:
Bei den beiden letzten Posenfolgen habe ich Ihnen freigestellt, mit welcher Methode Sie darangehen, aber ich bat Sie, das Verhältnis von Modellbetrachtung zu Zeichenblattkontrolle allmählich zugunsten des Modells zu verschieben. Ihr Ziel sollte es sein, im Laufe der Zeit immer selbstverständlicher mehr das Modell zu betrachten, als ihr Zeichenblatt. 
Der Blick auf das Zeichenblatt gilt idealerweise eines Tages eigentlich nur dem Zusammenhang und dem Finden der Anschlusspunkte.


Zusammenfassung der ersten Erfahrung des Gestischen Zeichnens:

- Beim gestischen Zeichnen geht es darum, sich in den Zustand des aufmerksamen Beobachtens einzuüben.
- Es geht darum, die Bewegungsrichtung, Spannung oder Entspannung des Gegenstands im Raum zu sehen
- Es gilt also nicht, das WIE eines Gegenstands oder Menschen zu beschreiben, sondern darum zu beschreiben, WAS der Gegenstand oder Mensch tut
Also: Welche Richtung hat das Objekt, welche Tendenz,  welche Kraft, welche Handlung und Bewegung treibt diese Form da vor meinem Auge?
- Das Ergebnis dieser Übung existiert mehr in Ihrem Innern, indem Sie damit sozusagen das Grundvokabular der Formen lernen (d.h. wie es aussieht, wenn etwas sitzt, steht, liegt, sinkt, fällt, steigt, geht usw.) und den Formenschatz in Ihrer Erinnerung erweitern.

Die konkreten Zeichnungen sind hierbei lediglich ein Protokoll einer echten Begegnung
Diese können natürlich zunehmend kunsthaltig werden - müssen aber nicht...zumindest vorerst nicht.

 (Diese Abbildungen stammen aus einem leider nur in englisch erhältlichen Lehrbuch, das ich jedem, der einigermaßen englisch lesen kann, empfehlen möchte:
Kimon Nicolaides
The Natural Way to Draw: A Work Plan for Art Study, 
xte Neuauflage, ursprünglich New York, 1930er Jahre
Aber Vorsicht: Extrem arbeitsaufwändige Methode!
bei amazon hier )




"Blindes" Konturzeichnen
(Zeichenblatt relativ gross, um etliche Ansätze neben- und übereinander zu setzen;
2B Bleistift, gespitzt)


Am Ende dieser Stunde haben Sie für ein paar Minuten dann das Gegenteil des gestischen Zeichnens geübt, indem Sie so konzentriert wie noch möglich mit Ihren Augen langsam entlang der Aussenkontur Ihrer linken Hand reisten und den "Reisebericht" Ihrer zeichnenden Hand mitteilten, ohne dabei auf das Zeichenblatt zu schauen. Am Besten wenden Sie sich dabei sogar ab vom Zeichenblatt, um nicht in Versuchung zu geraten, das Ergebnis zu kontrollieren.


Auch hier geht es nur in zweiter Linie um das Zeichenergebnis auf dem Blatt, sondern um die Schärfung Ihrer Wahrnehmungsfähigkeit (sehen Sie wirklich  jede Falte, jedes Härchen, jede Beule, Delle, Biegung, Flecken ?) - und was es alles zu sehen gibt entlang der Kontur dieses Ihnen doch eigentlich so vertrauten Gegenstands!


Stellen Sie sich vor, dass Ihr Auge mit sehr geringer Geschwindigkeit voranschreitet und der Bleistift jeder Bewegung folgen muss wie eine Seismografische Nadel.


Eilen Sie nicht, gönnen Sie sich Zeit zur Beobachtung, zwingen Sie bitte keine anatomische Zeichnung herbei!
Ich hatte Ihnen an diesem Abend ja kurz anhand einer Proportionsskizze eines Kopfes gezeigt, wie komplex anatomische Zusammenhänge sind und wieviel man wissen und studieren muss, um auf diesem Weg zu einer anatomisch plausiblen Zeichnung zu kommen.
Die Bedingungen für diese Art des Zeichnens werden wir an anderer Stelle kennenlernen.
Heute geht es darum, dass Sie das visuelle Vokabular für die Einzelheiten erarbeiten.


Wenn Sie sich von der traditionellen Darstellung einer vollständigen Hand und dem perfekten Zusammenhang lösen können, erhalten die entstehenden Figuren ihren eigenen geradezu poetischen Reiz:



Es geht hier NICHT um die formale Stimmigkeit, sondern um das Abenteuer der lebendigen Linien, die sich, je echter die Begegnung ist, dem gesehenen Phänomen nähern.
Das bedeutet, die Dinge sehen zu lernen, wie sie sind.


Ein Wort noch zu einigen unglücklichen Formulierungen am Abend im Zusammenhang mit der "Kraft der Worte":
Gemeint war, dass Sie sich den Spass nicht nehmen sollten, indem Sie Ihre eigenen Arbeiten vorschnell abwerten, wenn Sie nicht gleich Ihren Erwartungen entsprechen. Das Problem sind oft die an Vorbildern orientierten Erwartungen, nicht die Qualität Ihrer Arbeit. 
Wenn meine Anmerkungen jemanden angegriffen oder gar verletzt haben sollten, so bitte ich dies zu entschuldigen und meiner unkonzentrierten Formulierunfähigkeit am Abend anzukreiden. Es ist nicht meine Absicht und es steht mir auch nicht zu, Sie in Ihrem Verhalten zu kritisieren. Ich möchte nur, dass Sie sich nicht vorschnell entmutigen!


Montag, 21. November 2011

Einheit 2 - 1. Stunde: Mit der Rechten Hirnhälfte zeichnen - 15.11.11

Zu Beginn der Stunde habe ich Ihnen kurz skizziert, wie Sie üben sollten:


- Zeit: 
Regelmässig, aber nie zu lange. Lieber eine qualitätsvolle halbe Stunde, als 2 Stunden Selbstquälerei. Versuchen Sie sich aber, ritualisierte, also wiederkehrende Übungszeiten zu schaffen, damit Ihr Körper quasi automatisch schon danach verlangt...der Rest kommt dann nach.
Zeichnen lernt man wie Autofahren, die gefahrenen Kilometer machen den Unterschied.


Leider habe ich noch kein Osmoseverfahren zum Zeichnenlernen entwickeln können, dass Ihnen hier eine Abkürzung verschaffte.


- Raum:
Schaffen Sie sich einen Ort, der Ihnen, aber auch anderen zeigt, dass Ihnen Zeichnen wichtig ist. Wenn es nicht anders möglich ist, tut es natürlich eine wegräumbare Tischstaffelei und eine Box für Werkzeuge - aber letztlich brauchen Sie die Erinnerung, die von einem Ort ausgeht. Ihre Gedanken fangen dann von selbst an, um die Zeichenprobleme zu kreisen, wenn Sie sie an einer festen Stelle der Wohnung dauernd vor Augen haben.
Ausreichend Licht von links für Rechtshänder, genug Raum zum Zurücktreten, wenigstens eine schiefgestellte Zeichenplatte auf der Tischkante, besser noch aber eine Staffelei oder gar ein richtiger Zeichentisch, eines Tages.


- Was üben?
Jetzt schon haben Sie mit den Warmups der vergangenen Stunden ein Programm für viele Monate - und jede Woche kommen weitere hinzu.
Sie müssen sich das Üben auch eines Meisters des Zeichnens vorstellen wie bei einem Musiker oder Sportler. Es gibt eine Menge an ständiger Schulung der Geläufigkeit, quasi Tonleitern, Streck- und Dehnübungen, Kraft- Und Loslassübungen, die auch nach Jahrzehnten noch relevant sind.


Ich schlage Ihnen für den Anfang folgende 3 Teile vor:


- Ein Viertel der Gesamtübezeit Warmups ins Sudelheft, d.h. so anspruchslos und niederschwellig wie möglich. Zeichnen Sie Ihren täglichen Misthaufen (die Kürbisse wachsen von selbst da raus...)


- Ein weiteres Viertel Seh-Übungen (analog zu unseren Menschenzeichnungen). So schlecht und simpel am Anfang wie möglich! Das meine ich total Ernst.
 Am Anfang stressen Sie sich bitte nicht mit dem scheiternden Versuch zur Abbildgenauigkeit, es geht hier erst einmal überhaupt darum, zu schauen, sich Zeit zu nehmen, einfache alltägliche Dinge anzuschauen und deren "Geste", d.h. ihren Ausdruck, Richtung, Kraft etc. zu erfassen, also nicht, wie etwas genau ausschaut (da verlieren Sie sofort gegen jeden billigen Fotoapparat), sondern, was die Dinge tun, WIE sie sind. Und besonders spannend wird das bei Tier und Mensch!
Diese Arbeit eignet sich sehr gut für das Skizzenbuch!


- Die verbleibende Hälfte sollten Sie schon gleich von Beginn an dafür verwenden, das Gelernte in konzentriert und bewusst als Werke konzipierte, fertige und signierte  Arbeiten zu investieren. Alle Warmups des Teil 1 sind auch als Reihen und vollendet komponierbare Arbeiten denkbar. Gewöhnen Sie sich rechtzeitig daran, ihre Studien, Übungen und Skizzen zu verwerten!
Am Ende dann ein Passepartout darum und in einer Mappe sammeln.
So lernt man auch, sich ernst zu nehmen im Wunsch, das Zeichnen zu lernen.




Einheit 1 und Einheit 2 im Zusammenhang:








Thema der Einheit 2, Überblick:
Der seltsame Titel dieser Einheit wird sich Ihnen nach und nach erklären.


Paradoxerweise hat die Autorin, auf die ich mich in dieser Einheit vornehmlich stütze, in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ein sehr umfangreiches theoretisches Buch geschrieben, um eine Zeichenmethode zu erklären, deren Anwendung durch Beschreibung eher erschwert wird, weil die Beschreibung  genau die Instanz des Gehirns anspricht, die dieser speziellen Art der Wahrnehmung entgegensteht.
Es ist nicht das erste und nicht das letzte Paradoxon, das ich Ihnen zumuten werde. Die Kunst ist an sich schon ein Paradoxon, überhaupt und sowieso...

Es wäre also nun widersinnig, wenn ich Ihnen wie sonst erst eine Erklärung und Theorie voranschickte, um dann von Ihnen zu verlangen, dass Sie die Erklärung besser gleich wieder vergessen, um aus einer anderen Region des Gehirns und der Wahrnehmung arbeiten zu können.

Ich verlasse mich also vorerst darauf, dass Sie spüren und erfahren werden, was sich dahinter verbirgt. D.h. wir werden die ersten beiden Stunden (15. und 21.11.) mit praktischen Übungen beginnen, die Sie hoffentlich stutzig werden lassen. Die Theorie dazu folgt dann in der 3. Stunde am 28.11.

Mit den Warmups bzw Lockerungsübungen zur Einheit 2 werde ich Sie überfordernd und provozierend vielleicht in das für den Anfänger einschüchternde Thema des Menschenzeichnens einführen. Aber keine Angst, wir entwickeln dies in kleinen Schritten gemeinsam so, dass Sie auf jeden Fall zumindest interessante Erfahrungen machen werden.

Das Wichtigste zu Beginn:
Hier geht es darum, erste Bekanntschaft damit zu machen, dass Sie sich Ihren Augen, Ihrer Wahrnehmung überlassen lernen und Ihr Zeicheninstrument Ihren Beobachtungen zu folgen hat. Sie zeichnen möglichst "blind", d.h. Sie sollten sich nach und nach dazu bringen, immer weniger auf das Zeichenblatt zu sehen, sondern ganz beim Modell, dem Anblick zu verweilen und Ihre Zeichenspur eher wie eine Art "Seismogramm" geschehen zu lassen.
Fragen Sie einmal ein Modell, woran es erkennt, wer ein guter Zeichner ist. In fast allen Fällen bekommen Sie zu hören, dass der gute Zeichner mit den Augen geradezu am Modell klebt und nur selten auf sein Blatt schaut, höchstens, um Anschlusspunkte wiederzufinden, während der unsichere Zeichner kaum auf das Modell schaut und alles auf dem Blatt irgendwie in den Griff kriegen will.
Glauben Sie mir, es ist paradoxerweise wirklich so, dass Ihr Auge, wenn es Anschluss an Ihre Zeichenhand gefunden hat, besser und genauer weiss, wie es gehört, als Sie. Lassen Sie sich für ein paar Wochen auf diese eventuell beunruhigende Erfahrung ein, zu Ihrer gewohnten Methode können Sie danach immer wieder zurück.

Ich weiss, das ist auf Anhieb nicht einfach. Man wehrt sich gegen den drohenden Kontrollverlust.
Das Ziel, die Belohnung dieser erst einmal ungemütlichen Erfahrung ist eine mehr oder weniger geglückte "SYNCHRONISATION" von Auge und Hand.
Je mehr Sie sich auf das sog. Blindzeichnen einlassen, desto deutlicher wird diese Verknüpfung hergestellt.

Warmups der Einheit 2

Gestische 1-Minuten-Posen:

In dieser ersten Annäherung geht es darum, ein Modell, das jeweils für eine Minute stillsteht und "posiert", auf einfachste Weise relativ schnell zu zeichnen.
Auf dieser ersten Stufe spielt es gar keine Rolle, wie Sie das machen. Es kann so schlecht wie möglich geschehen. Ich möchte geradezu, dass Sie zuerst so schlecht wie möglich zeichnen.

Es geht also erst einmal nur darum, dass Sie

- überhaupt hinschauen lernen,
- dass Sie erleben, was 1 konzentrierte Minute bedeutet und ein Gefühl für die Zeichenzeit entwickeln,
- dass Sie einfache Unterschiede sehen lernen: Ist das Modell aufrecht, gebeugt, sitzend, liegend, gespannt, schlaff usw.

Klingt nicht nur banal, ist es auch. Aber entscheidend wird nun, dass Sie den Kern dieser Beobachtungen an Ihre Zeichenhand mitzuteilen lernen. Auf dieser ersten Stufe geht es nicht um schöne Zeichnungen von den Modellen (ob Menschen oder den Dingen um Sie herum), sondern egal wie angespannt und nervös Sie das auch machen wird, es geht darum, ein irgendwie geartetes Bündel oder Knäuel von Linien Ihrer Beobachtung entsprechend auf das Blatt zu bringen - unwichtig, ob man eine menschliche Gestalt darin erkennt oder nicht - das kommt noch! Das verspreche ich Ihnen.

Der eigentliche Lerninhalt, der unter der Hand damit entwickelt wird, ist eine Art von Mitgefühl/Empathie, die sich mit der Beobachtung entwickelt. Eine Zeichnung hat nur dann Belang, Wirklichkeit und Qualität, wenn Sie durch die Realität Ihrer Wahrnehmung gegangen ist. Sie können eine sitzende Figur nur dann erkenn- und nachfühlbar zeichnen, wenn Ihr Strich glaubhaft versichert, dass Ihnen das abgebildete Phänomen "Sitzen" bekannt ist.
("Ideomotorisches Zeichnen" möchte ich das nennen, solange ich keinen besseren Begriff kenne. Das bedeutet, dass sich quasi automatisch ein durch die Beobachtung ausgelöstes Gefühl für das Gegenüber oder den Gegenstand auf die zeichnende Hand überträgt und die Linie mitgestaltet)

Wir werden in dieser zweiten Einheit die Warmups oder Lockerungsübungen mit ca. 15-20 1-Minuten-Posen beginnen. Ich werde allerdings jedesmal eine neue Herangehensweise vorschlagen.

Am 15.11. wurden diese Posen im "Freistilzeichnen" angefertigt, d.h. aus dem Bauch heraus wie es gerade kommt...

Übungen zur Einheit 2:

1.) Profile/Pokal-Bild
Zeichnen Sie als Linkshänder auf die rechte Seite eines A4-Querformats ein menschliches Kopfprofil, das nach links schaut. Als Rechtshänder beginnen Sie auf der linken Seite, das Kopfprofil schaut nach rechts..
Benennen Sie beim Zeichnen die Teile, die Sie zeichnen: Das ist die Stirn, das ist die Nase, der Mund, das Kinn usw.
Zeichnen Sie dann die symmetrische Entsprechung auf der anderen Seite des Blattes, sodass sich beide Profile zu einer "Pokal- oder Vasenfigur" ergänzen.

Registrieren Sie, dass Ihnen bei der Anfertigung des zweiten - antwortenden - Profils völlig egal ist, WAS genau Sie da zeichnen, sondern wie sehr es viel wichtiger wird, WIE Sie es zeichnen und dass es eine ungefähre Entsprechung zum ersten Profil wird.
Sie urteilen dabei unversehens nicht mehr sachlich und logisch, sondern ästhetisch - und genau darum geh es in dieser Einheit! Das ist, so banal es zunächst auch aussehen mag, eine ganz andere Welt und eine ganz andere Herangehensweise an die Erscheinungen der Welt. Hier entspringt der Zeichner in Ihnen.

2. Offene komplexe Symmetrie
Die oben beschriebene Beobachtung können Sie anhand beliebiger Symmetriefiguren immer wieder erfahren und üben. Zeichnen Sie als Linkshänder auf die rechte Seite eine komplexe, irgendwie geformte Linie von oben nach unten und wiederholen Sie die entsprechende symmetrische Figur auf der gegenüberliegenden Seite. 
Es sollte ein mehr oder weniger gelungener "Rotationskörper" entstehen.
Wenn Sie den entstandenen Zwischenraum übrigens ausfüllen mit Schraffur oder "Ausmalen", können Sie sehr schnell sehen, wie Ihnen die Symmetrie gelungen ist. Das braucht Übung. Jogging für die Rechte Hirnhälfte sozusagen.


3. Strawinsky auf dem Kopf
Anhand einer auf den Kopf gestellten Figurzeichnung Picassos des Komponisten Strawinsky erfahren Sie, dass Sie mit dieser Methode erstaunlicherweise sehr komplexe Kopien zu zeichnen in der Lage sind, die Sie sich unter normalen Umständen nie zugetraut hätten.
Der "Trick" besteht darin, dass Sie durch das Auf-den-Kopf-Stellen die vernünftige Zuordnung verstören und der Zwang zur Benennung und Identifikation der Bildteile gezielt erschwert wird, sodass er sogar ganz nachlässt.. Irgendwann gibt Ihr interner "Besserwisser" auf und lässt die ästhetische Seite des Gehirns ihre Arbeit tun...und dann erst wird es was.
Die Theorie dazu folgt noch...


Buch des Abends, als Nachklapp zur Mikrobenwelt:

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