Mittwoch, 23. November 2011

Einheit 2 - 2. Stunde: Was ist Gestisches Zeichnen? - 22.11.11

Sie haben in der ersten Stunde der Einheit 2 beim Zeichnen der Symmetriefiguren und des Kopfüber-Portraits evtl. schon erfahren, dass es einen anderen Zugang zur Zeichnung und Wahrnehmung gibt, der unabhängig davon ist, was wir vermeintlich über das Aussehen der Dinge wissen.
Ja mehr noch, Sie haben hoffentlich zumindest ansatzweise feststellen können, dass wir unbewusst gar nicht mehr genau hinschauen, sondern so starke Konzepte über das Aussehen der Dinge in uns haben, dass wir meinen, (fast) alles aus dem Kopf zeichnen können, wenigstens in groben Umrissen.

Aber genau dieses - symbolische - Vorwissen steht uns als Zeichner immerzu im Weg.

Wir zeichnen eine Art "abgekürzte" Realität, die nur auf das vermeintlich Wesentliche zielt und das vermeintlich Nebensächliche weglässt.
So kommt es zu Stande, dass wir z.B. beim Zeichnen eines menschlichen Kopfes gerne die für uns wesentlichen Informationen über Augen, Nase und Mund übergross und prominent zeichnen und "unwichtige" Partien wie die Stirn oder das Kinn vergessen oder zumindest unterproportional zeichnen. (Ich habe Sie in unserer allerersten Stunde einen Kopf zeichnen lassen. Vergleichen Sie bitte Ihr Ergebnis mit der oben ausgesprochenen Vermutung. Stimmts? Sind die Proportionen in Ihrer Zeichnung "realistisch" oder symbolisch?)

Diese Haltung kann man "Vorwegnahme" ("Antizipation") nennen, d.h. wir sind geneigt, alle unsere Wahrnehmung spontan mit unserer Vorstellung oder Seherwartung zu vergleichen und nehmen das Ergebnis des Sehens oder Sehexperiments gerne vorweg - weil wir das so gelernt haben und weil es uns im Alltag dabei hilft, die Dinge in - meist altbewährter - Ordnung zu halten. Und das ist im Alltag auch gut so, damit er erwartungsgemäß "funktioniert".

Für das Sehenlernen im Speziellen  aber und die Kunst im Allgemeinen ist das kein guter Ansatz. Für den Zeichner ist diese Einstellung aus Vorurteil und der Vorwegnahme das reine Gift, denn sie verhindert die wirkliche Begegnung mit den Dingen der Welt und die Aufregung der Entdeckung der Wirklichkeit. Und damit vor allem, die Dinge zu sehen, wie sie für einen selbst sind, um sie zeichnen zu können, wie man sie wirklich erlebt hat und subjektiv sieht. Geht der Zeichner nicht daran, diese Vorurteile zu überwinden, bleibt ihm zumeist nur übrig, nachzuahmen, was ein anderer vor ihm gesehen und erarbeitet hat. Und solches Zeichnen ist meines Erachtens als mehr oder weniger bewusste Nachahmung leider ohne Belang, bzw. allenfalls gut und wichtig, wenn man lernt - aber es ist wenig künstlerisch und noch weniger originell.

Der Kern der 2.Einheit kreist also darum, diese Vorwegnahmen und das symbolische Sehen
überhaupt erst einmal zu erkennen und mit Hilfe einiger "Tricks" zumindest zu schwächen.

Einen dieser Kniffe oder "Tricks" zur Überwindung der Vorwegnahme und des starken Kontrollbedürfnisses habe ich Ihnen in der 2. Stunde leibhaftig demonstriert, indem ich Sie gegen Ihren deutlichen Widerstand - aber nur vorübergehend, keine Angst ! - dazu überredete, einige der Menschenstudien zunächst völlig blind und später dann halb - oder wenigstens ein wenig blind zu zeichnen.
Dass diese Übung auf Widerstand und auf spürbares Unbehagen stösst, ist klar und erwartungsgemäß. Sie werden zu Beginn bei dieser Methode immer ein Unbehagen fühlen, da es völlig gegen alle Gewohnheiten geht - aber Sie werden merken, sofern Sie bereit sind, sich darauf einzulassen, dass nichts wirklich Schlimmes geschieht, dass Sie nicht völlig aus der Rolle fallen oder die Selbstbeherrschung oder Orientierung im All verlieren. Höchstens, dass Ihre Zeichnung eine ganze Weile nicht den geläufigen Schönheitserwartungen entspricht, ja vielleicht sogar "irgendwie schlecht" aussieht. Aber, erinnern Sie sich: Das war sogar Ziel der Übung. Erlauben Sie sich in der 2.Einheit ruhig, so schlecht wie möglich zu zeichnen. Denn: Es geht hierbei zumindest am Anfang nicht darum, ein tolles Werk zu schaffen, sondern vielleicht zum ersten Mal im Leben mit Bewusstsein und Konzentration etwas anzuschauen und dessen Form und Struktur im Raum zu erfassen und ein Gefühl dafür zu entwickeln, was an einem Anblick wichtig, charakteristisch und wesentlich ist.


Und sollte es Ihnen dann doch nach der ersten Erfahrung trotz allem nicht wichtig oder sogar nicht ganz geheuer sein, so betrachten Sie bitte die nächsten 2-3 Abende mit einiger Neugier unter dem Aspekt des abenteuerlichen Experimentierens völlig Abgedrehter, m.a.W. das geht auch vorbei...

Das Ziel dieser Stunden der 2. Einheit ist es also, das Sehen zu sehen und erleben sowie allmählich einen Kontakt und ein Zusammenspiel von Auge, Gehirn und Zeichenhand herzustellen.
Dass dies nicht auf Anhieb perfekt gelingt, liegt ja auf der Hand. Sie müssen dies also wie immer regelmäßig üben.

Blindzeichnen: 
(grosses Zeichenblatt, etwa 5 Posen pro Blatt neben- und übereinander, breite Seite eines Stückes Signierkreide oder Grafit, später auch zusätzlich Spitze)

Das  Blindzeichnen ist hierbei das zunächst einmal beängstigendste Experiment. Sie haben in Einheit 1 kennengelernt, dass wir ohne jedes Vor- oder Innenbild dennoch in der Lage sind, mit Hilfe eines Stiftes differenzierte und ausdrucksvolle Zeichnungen quasi "aus dem Bauch" zu schaffen, die von Stimmung, Gefühl, Laune, Motivation etc. Bericht geben.
Diese Linien aber "wissen" im Kern noch nichts von den Erscheinungen der Welt, sie protokollieren eher persönliche Zustände und drücken diese mehr oder weniger glaubhaft und echt aus.
In der Einheit 2 nun aber machen Sie sich auf den Weg, diese unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten mit echten Seherfahrungen aufzuladen. 

1) Total blind zeichnen:
Die erste Übung des totalen Blindzeichnens hat zum Ziel, dass Sie Ihrer Vorstellungskraft "Futter" geben, indem Sie die Haltung eines Menschen oder sonstigen Gegenstands in der Umgebung für wenige Sekunden (ca. 10 Sekunden) fixierend anschauen und dann mit geschlossenen Augen versuchen zu memorieren, was sich Ihnen als Wesentlichstes eingeprägt hat. Die Geste dieses Eindrucks sollten Sie mit wenigen groben, eher flächigen Markierungen festhalten. (Max. 50 Sek.) 
Notfalls können Sie auch weiterhin mit der Stiftspitze Konturen zeichnen, aber ich erinnere Sie daran, dass Sie damit eher wieder in die Falle der symbolischen Denkweise geraten, indem Sie symbolische Zeichen für Kopf oder Hand und Fuß statt Beobachtungen einsetzen, die nicht dem gerade Gesehenen entsprechen.
Die Zeichnung sollten Sie hierbei nicht als eine realistische Sachzeichnung begreifen, sondern als ein Seismogramm des Seheindrucks.
Diese Übung, die jederzeit an jedem Ort auch nur für Minuten gemacht werden kann, wird im Laufe der Zeit immer klarer dahin führen, dass Sie sehr schnell erfassen lernen, was Sie sehen und was das Wesentliche daran ist. Nichts wirklich Schlimmes also, das diese Form des Kontrollverlusts beschert.




2) Halbblind zeichnen:
Im 2. Experiment ging es darum, eine Folge von Posen jeweils für eine Minute mit den Blicken zu fixieren, d.h. die Augen dauernd auf das Modell zu heften und zu versuchen, der Hand mitzuteilen, was Sie gerade anschauen und wie dies beschaffen ist. Dabei wird in diesem Fall  die Zeichenfläche mit einem Tuch verhüllt, sodass Sie der dauernden Versuchung zur Kontrolle nicht erliegen können. Klar, dass das erst einmal monströse Gestalten bringt. Das soll so. Im besten Fall erleben Sie, welche insgeheimen Proportionsvorstellungen ihr Blick herstellt: Was wichtig ist, wird immer grösser, was man nicht wahrnimmt, existiert nicht in der Zeichnung... 
Aber ich verspreche Ihnen, dass Sie im Laufe des Übens eine immer deutlichere Vorstellung davon entwickeln, was Sie sehen und wo und wie dies der Stift auf dem Blatt festhält.
Leider halt wie immer nur durch Übung...




3) Ein wenig blind zeichnen:
Bei den beiden letzten Posenfolgen habe ich Ihnen freigestellt, mit welcher Methode Sie darangehen, aber ich bat Sie, das Verhältnis von Modellbetrachtung zu Zeichenblattkontrolle allmählich zugunsten des Modells zu verschieben. Ihr Ziel sollte es sein, im Laufe der Zeit immer selbstverständlicher mehr das Modell zu betrachten, als ihr Zeichenblatt. 
Der Blick auf das Zeichenblatt gilt idealerweise eines Tages eigentlich nur dem Zusammenhang und dem Finden der Anschlusspunkte.


Zusammenfassung der ersten Erfahrung des Gestischen Zeichnens:

- Beim gestischen Zeichnen geht es darum, sich in den Zustand des aufmerksamen Beobachtens einzuüben.
- Es geht darum, die Bewegungsrichtung, Spannung oder Entspannung des Gegenstands im Raum zu sehen
- Es gilt also nicht, das WIE eines Gegenstands oder Menschen zu beschreiben, sondern darum zu beschreiben, WAS der Gegenstand oder Mensch tut
Also: Welche Richtung hat das Objekt, welche Tendenz,  welche Kraft, welche Handlung und Bewegung treibt diese Form da vor meinem Auge?
- Das Ergebnis dieser Übung existiert mehr in Ihrem Innern, indem Sie damit sozusagen das Grundvokabular der Formen lernen (d.h. wie es aussieht, wenn etwas sitzt, steht, liegt, sinkt, fällt, steigt, geht usw.) und den Formenschatz in Ihrer Erinnerung erweitern.

Die konkreten Zeichnungen sind hierbei lediglich ein Protokoll einer echten Begegnung
Diese können natürlich zunehmend kunsthaltig werden - müssen aber nicht...zumindest vorerst nicht.

 (Diese Abbildungen stammen aus einem leider nur in englisch erhältlichen Lehrbuch, das ich jedem, der einigermaßen englisch lesen kann, empfehlen möchte:
Kimon Nicolaides
The Natural Way to Draw: A Work Plan for Art Study, 
xte Neuauflage, ursprünglich New York, 1930er Jahre
Aber Vorsicht: Extrem arbeitsaufwändige Methode!
bei amazon hier )




"Blindes" Konturzeichnen
(Zeichenblatt relativ gross, um etliche Ansätze neben- und übereinander zu setzen;
2B Bleistift, gespitzt)


Am Ende dieser Stunde haben Sie für ein paar Minuten dann das Gegenteil des gestischen Zeichnens geübt, indem Sie so konzentriert wie noch möglich mit Ihren Augen langsam entlang der Aussenkontur Ihrer linken Hand reisten und den "Reisebericht" Ihrer zeichnenden Hand mitteilten, ohne dabei auf das Zeichenblatt zu schauen. Am Besten wenden Sie sich dabei sogar ab vom Zeichenblatt, um nicht in Versuchung zu geraten, das Ergebnis zu kontrollieren.


Auch hier geht es nur in zweiter Linie um das Zeichenergebnis auf dem Blatt, sondern um die Schärfung Ihrer Wahrnehmungsfähigkeit (sehen Sie wirklich  jede Falte, jedes Härchen, jede Beule, Delle, Biegung, Flecken ?) - und was es alles zu sehen gibt entlang der Kontur dieses Ihnen doch eigentlich so vertrauten Gegenstands!


Stellen Sie sich vor, dass Ihr Auge mit sehr geringer Geschwindigkeit voranschreitet und der Bleistift jeder Bewegung folgen muss wie eine Seismografische Nadel.


Eilen Sie nicht, gönnen Sie sich Zeit zur Beobachtung, zwingen Sie bitte keine anatomische Zeichnung herbei!
Ich hatte Ihnen an diesem Abend ja kurz anhand einer Proportionsskizze eines Kopfes gezeigt, wie komplex anatomische Zusammenhänge sind und wieviel man wissen und studieren muss, um auf diesem Weg zu einer anatomisch plausiblen Zeichnung zu kommen.
Die Bedingungen für diese Art des Zeichnens werden wir an anderer Stelle kennenlernen.
Heute geht es darum, dass Sie das visuelle Vokabular für die Einzelheiten erarbeiten.


Wenn Sie sich von der traditionellen Darstellung einer vollständigen Hand und dem perfekten Zusammenhang lösen können, erhalten die entstehenden Figuren ihren eigenen geradezu poetischen Reiz:



Es geht hier NICHT um die formale Stimmigkeit, sondern um das Abenteuer der lebendigen Linien, die sich, je echter die Begegnung ist, dem gesehenen Phänomen nähern.
Das bedeutet, die Dinge sehen zu lernen, wie sie sind.


Ein Wort noch zu einigen unglücklichen Formulierungen am Abend im Zusammenhang mit der "Kraft der Worte":
Gemeint war, dass Sie sich den Spass nicht nehmen sollten, indem Sie Ihre eigenen Arbeiten vorschnell abwerten, wenn Sie nicht gleich Ihren Erwartungen entsprechen. Das Problem sind oft die an Vorbildern orientierten Erwartungen, nicht die Qualität Ihrer Arbeit. 
Wenn meine Anmerkungen jemanden angegriffen oder gar verletzt haben sollten, so bitte ich dies zu entschuldigen und meiner unkonzentrierten Formulierunfähigkeit am Abend anzukreiden. Es ist nicht meine Absicht und es steht mir auch nicht zu, Sie in Ihrem Verhalten zu kritisieren. Ich möchte nur, dass Sie sich nicht vorschnell entmutigen!


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