Diese Einheit gehört zu den Wichtigsten des ganzen Kurses:
Es gilt zu lernen, auf das grosse Ganze zu achten.
Wir werden in einer späteren Einheit etwas genauer untersuchen, welche Gesetze die Verteilung von Hell und Dunkel oder anderer Bildelemente bestimmen.
Jetzt aber geht es erst einmal auf einfachste Weise darum, ein Gefühl für die Aufteilung einer Zeichenfläche zu entwickeln.
Nach wie vor bitte ich Sie, um ihre Zeichnung immer zuerst einen Rahmen zu zeichnen. Es mag Ihnen stur erscheinen, aber meine Absicht ist es, Ihnen damit bewusst zu machen, dass Sie mit jeder Aktion ein empfindliches Gleichgewicht von Strichen, Linien, Punkten und Flächen erstellen. Diese sind immer auf die 4 Seiten der Zeichenfläche bezogen. Nicht umsonst heisst es, dass mit der Wahl eines bestimmten Formats schon die ersten 4 Linien eines Bildes gezogen sind.
Sie sollten bemerken, dass das FORMAT die erste wichtige Entscheidung bei der Gestaltung einer Zeichnung ist und ein erstes, wichtiges Element des Rhythmus' .
"Rhythmus" heisst diese Einheit, weil Sie mit jeder gezogenen Linie und mit jeder gekritzelten oder schraffierten Fläche eine Abwechslung oder einen Unterschied schaffen, was sich als Abfolge von Leere und Aktion darstellt, so wie ein Händeklatschen oder Fußstampfen eine zeitliche Abfolge markiert und strukturiert. In der Musik ergibt dies den "Puls" eines Stückes. Was es analog auch für die Zeichnung gibt.
In dieser ersten Annäherung an das Phänomen der Aufteilung und des visuellen Rhythmus genügen simple gekritzelte Verdichtungen und Auflockerungen, wie sie Ihnen in der Fotokopie der Seiten 24-25 aus Hans Daucher: Die Grosse Zeichenschule schon begegnet sind.
Wenn Sie sich nicht sicher sind, welche Aufteilung Sie bevorzugen oder für geeignet finden, kritzeln Sie zur Vorbereitung einfach einmal bewusst einige der vorgestellten Lösungen nach, Sie werden rasch merken, was Sie gut finden.
Rhythmus bedeutet in diesem ersten Schritt nur so etwas wie ein "AKZENTMUSTER" - mehr nicht.
Suchen Sie jetzt nicht nach einer perfekten Lösung, nach einem ehernen Gesetz oder Rezept, sondern folgen Sie dem, was sie für richtig und angenehm halten, sozusagen "aus dem Bauch heraus". Sie werden erleben, dass wir unbewusst bzw. kulturell vorgeprägt bestimmten Vorlieben folgen, die sich später auch beinahe mathematisch begründen lassen. Das muss Sie jetzt allerdings nicht wirklich belasten.
Wenn es um "Blickregie" geht, d.h. darum, den Blick des Betrachters auf eine bestimmte, dramatische Stelle der Zeichnung zu lenken, die der ganzen Zeichenmühe den Sinn verleiht, nutzen alle grossen Zeichner seit jeher diese Elemente der Aufteilung und Rhythmisierung des Zeichenblattes, gleichgültig nun, ob Van Dyck eine dramatische Szene um einen kosmischen Kuss webt oder der völlig abstrakte Franz Kline, der es bei der Spannung an sich belässt mit Zeichen, die nie eindeutig zu bestimmen sind - aber sie können es dennoch fühlen, dass die Sache "sitzt", dass die Architektur aus Zeichen und Leere "stimmt".
Warmups oder Lockerungsübungen:
1. Gebogene Linien, wie ein Schlittschuhläufer so leicht wie möglich mit fettem Stift zeichnen. Wie immer auf grosses Blatt in Körperdimension, also mindestens 60x40 cm. Die gebogene Linie so leicht zeichnen, dass da und dort fast Nichts auf dem Blatt zu sehen ist. Schauen Sie, wie leicht Sie werden können. Eine Übung für die eher kräftig Zupackenden, die sich hiermit zu zügeln lernen.
2. Gerade Linien mit feinem Stift so stark wie möglich zeichnen. Schauen Sie einmal, wie dicht Sie mit einem 2B-Stift werden können. Diese Übung ist etwas für die eher zart Zeichnenden, die hier den Mut aufbringen müssen, heftig und stark sichtbar zu werden.
Beide Übungen nacheinander gezeichnet markieren Extrempole, die Sie einmal gespürt und gezeichnet haben sollten, um Ihren eigenen Druck und damit Ausdruck zu entwickeln. Dass das Zeichenwerkzeug und die Qualität des Papiers hierbei auch mitwirken, ist selbstverständlich. Probieren Sie einfach alles aus, was Ihnen in die Hände fällt. Auch ein Kugelschreiber und Druckerpapier ist kunstwürdig! Es ist wie mit Beton: Es kommt darauf an, was man daraus macht...
Übung zur Helligkeitsverteilung 1:
Anhand von Verkleinerungen von Radierungen Rembrandts, der ein Meister der Helligkeitsverteilung war, können Sie sich hiermit in die Denk- und Beobachtungsweise dieses Lernschrittes einüben.
Wählen Sie sich zunächst einmal eine Abbildung aus, die Ihnen zusagt und kritzeln Sie nur die Verteilung der Flecken nach, ohne auf die Details der Erzählung zu achten. Sie können auch gerne völlig abstrakt in hellen und dunklen Drei- und Vierecken oder Kreisen denken. Schauen Sie auch bewusst einmal, was genau Sie an den unsympatischen Lösungen stört - gerade da lernt man oft am Meisten.
Ein kleiner Trick: Schauen Sie durch die Wimpern des fast geschlossenen Auges. Mit diesem Abblendtrick gelingt es oft am Besten, das Hell-Dunkel-Muster zu identifizieren.
Sie dürfen gerne alle Vorlagen in jeder denkbaren Grösse nachzeichnen!
Das Werk Picassos ist für diese Übungen auch gut geeignet, da er auch ein besonders kreatives Aufteilungsgefühl besaß.
Übung zur Helligkeitsverteilung 2:
Wählen Sie sich aus den Reproduktionen von Zeichnungen aus verschiedenen Epochen (siehe unten im Anhang) eine Arbeit, die Ihnen entweder zusagt oder Sie besonders provoziert und versuchen Sie kritzelnd mit dem Zeichenrepertoire, das Sie sich in den letzten Wochen schon erarbeitet haben, den Kern der Zeichnung nachzuzeichnen.
- Achten Sie zuerst einmal auf das Gesamtformat und wo der betreffende Meister Akzente setzte.
- Achten Sie darauf, welches Verhältnis helle und dunkle Stellen haben,
- wo der Zeichner weggelassen oder durch viele Linien betont hat.
- Zeichnen Sie nicht die Figuren, Gesichter und Details nach, sondern achten Sie zunächst nur auf den groben Aufbau und die Art der eingesetzten Linien (wo gibt es lange Geraden, wo kurze, staccato gesetzte Linien, wo Schwünge, wo Gebogene ?).
Diese Übungen sind Ihr erster Kontakt mit der traditionellen Lernmethode der "KOPIE", die ich Ihnen unbedingt nahelege. Kopieren muss nicht immer bedeuten, exakt nachzuvollziehen, was ein alter oder neuer Meister vorlegt, sondern kann auch in einer individuellen INTERPRETATION bestehen, die sich die Vorlage mehr oder weniger frei erschliesst.
Ein Verfahren, das in der Musik üblich und legitim ist - weshalb nicht in der Zeichnung und Malerei?
Ich bitte Sie, die folgenden Vorlagen auf diese Weise zu INTERPRETIEREN, mit all den Zeichenelementen, die Ihnen bisher begegnet sind.
Weitere Anregung:
Schauen Sie in Kunstbüchern und - katalogen, in Kunstkalendern und Zeitschriften nach Bildvorlagen mit interessanten Formataufteilungen. Sammeln und Interpretieren Sie diese so viel und oft es geht. Auf diese Weise erarbeiten Sie sich ein ganzes Arsenal von Lösungen, die Sie auf andere Zeichenaufgaben übertragen können.
Buch des Abends:
- Thomas Lüchinger, Intuitiv Zeichnen - Sehen mit allen Sinnen, Bern 1995, 21 €
(s. Amazon)
Wer sich über den zuweilen esoterischen Klang und die ein wenig therapeutische Grundstimmung hinwegsetzen muss/kann, dem bringt das Buch eine ganze Menge, wenn man sich auf die Entstehung der Zeichnung aus dem Innern und der dem Gefühl näheren Wahrnehmung konzentrieren möchte. 72 praktische Übungen, an deren Ende man das gesamte expressive Repertoire kennengelernt hat.
Nebenbei: Das Buch hat bei Amazon.de einige schlechte Rezensionen und dadurch nur 3 Sterne, weil einige Kritiker offenbar nicht begriffen haben, worum es hier geht. Das Buch heisst NICHT: Garantiert zeichnen lernen... Lassen Sie sich nicht irritieren, in seinem Segment ist der Ansatz des Buches absolut richtig und produktiv, alles andere (Techniken, Raum, Proportionen, usw.) lernt man woanders. Hier geht es nur um den persönlichen Strich, die eigene Linie - und die findet man mit den Übungen garantiert. Und der Strich macht letztlich den eigenen Sound. Was wichtig ist.
Künstler des Abends:
Van Dyck
Tiepolo
Rembrandt
Franz Kline
Claude Lorrain
Anhang:
Vorlagen für die Hauptübung des Abends für alle diejenigen, die weiterarbeiten möchten:
(Bitte auf das jeweilige Bild klicken, es sollte sich eine vergrösserte und ausdruckbare Version des Bildes in einem neuen Browserfenster öffnen)
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